Ulrich Seidl

Medienkunst
Experimental- und Animationsfilm
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Ein Wirklichkeitsbearbeiter: Sechs Bemerkungen zu Werk und Aufstieg des Filmemachers Ulrich Seidl

1. Es ist nicht einfach, Ulrich Seidl nahe zu treten. Das Bild, das man sich von ihm machen soll, kontrolliert er streng. Der Umstand, dass sich sein Publikum, wenn es ihn – im Rahmen von Retrospektiven oder Premieren – erstmals persönlich kennen lernt, von seinem Auftreten (ruhige Stimme, klassische Anzüge, gelegentlich ein Monokel vor dem linken Auge) nicht selten frappiert zeigt, amüsiert ihn. Den Leuten, sagt Seidl, sei sein Erscheinungsbild «oft unfassbar», da sie offenbar davon ausgingen, dass der Regisseur «solcher Filme« naturgemäß auch äußerlich ein «wilder Hund» sein müsse, mindestens aber: «ein sehr verschrobener Mensch».
2. Seidl bricht in seinen Filmen ungeniert Scham- und Geschmackskonventionen, um die faszinierende Farce, für die er das Leben hält, darzustellen. Dass ihm sein eigentümlich lustvoller Pessimismus nur Freunde eingebracht hätte, kann man nicht behaupten. Dabei kehren bestimmte Einwände fast leitmotivisch wieder: Seine Filme seien überzeichnet, menschenfeindlich, ausbeuterisch. Tatsächlich aber erstattet Seidl den Menschen und Ereignissen, die er zeigt, durch seine rücksichtslose Bildsprache ihren Platz im Leben zurück: als wollte er das Unterdrückte, das Verdrängte unserer Gesellschaft und die Wut und die Irritation seiner Protagonisten für die Wirklichkeit retten.
3. Seidl mischt völlig selbstverständlich professionelles Schauspiel mit Laiendarstellungen und Erfundenes mit Vorgefundenem. Lange vor «Models» und «Hundstage» schon, vor dem Schritt hin zu offen spielfilmischen Strukturen hat Seidl deutlich erklärt, dass er nie behauptet habe, Dokumentarfilme zu machen. Den Gefallen, seine Filme der Einfachheit halber nach gängigen Kriterien zu klassifizieren, tut er seinen Zuschauern nicht. Seine Filme sollten nie zu leicht zu fassen sein. Sie sind, was sie sind. Kategorien mögen andere dafür finden.
4. Eine «emotionale Nähe zu Minderheiten, die abseits der bürgerlichen Normalität stehen» habe er stets gehabt, gesteht Seidl, weil er sich «auch selbst immer als Außenseiter gefühlt» habe. Er führt sein Interesse an Opfern und Exzentrikern auf die eigene katholische Erziehung zurück, in der er sich nie zurecht gefunden habe. Bloß «engagierte» Arbeiten lehnt er für sich selbst kategorisch ab. Er halte, meint er, dem Zuschauer vielmehr «einen Spiegel vor». Das Unbehagen, das verlässlich ausgelöst werde, wenn man sich darin wiedererkenne, führe eben zum simplen Vorwurf der «Entstellung» des Wirklichen.
5. Das «Filmemachen» hat für Ulrich Seidl einen Preis: Ohne die Obsession, das möglichst beste Ergebnis zu erzielen, koste es, was es wolle, erschiene es ihm ganz sinnlos, ans Werk zu gehen. Einen «Zweistundenfilm» wie «Hundstage» aus achtzig Stunden gedrehtem Material zusammenzusetzen, gehört zu den Normalbedingungen seiner Arbeit.
6. Die Tristesse, die seinen Filmen zugrunde liegt, die Depression, die in ihnen wirkt, verteidigt Seidl kühl. «Ich bin kein Hochzeitsfotograf», sagt er. Die Einsamkeit ist Seidls zentrales Sujet. Biografisches Postskript:
Seidl, Ulrich. Geboren in Wien 1952. Zieht als Dreijähriger mit seinen Eltern nach Horn ins Waldviertel. Nach der Volksschule zwei Jahre Jesuiten-Internat in Kalksburg. Nach der Matura Bundesheer, Reisen, Gelegenheitsjobs. Arbeitet als Nachtwächter, Lagerarbeiter und Kraftfahrer. Beginn des Studiums an der Wiener Filmakademie. Als er 1979 seinen ersten kurzen Film, «Einsvierzig», in Angriff nimmt, ist er 27 Jahre alt. Stationen einer Kinokarriere: «Der Ball» (1982), «Good News» (1989), «Mit Verlust ist zu rechnen» (1992), «Tierische Liebe» (1995), «Models» (1999). «Hundstage» gewinnt im September 2001 in Venedig den Großen Preis der Jury. Ulrich Seidl lebt und arbeitet als Filmautor, Regisseur und Produzent in Wien. Gegenwärtig arbeitet er an einem neuen Spielfilm, der sich um Arbeit, Sex und Religion drehen wird.

Diese Textpassage stammt aus der Kulturpreis-Broschüre von 2005