Waltraud Haas

Literatur
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„Ich höre / das Gras / ich schärfe / die Sichel“

Frauen haben es in der griechischen Mythologie oft nicht leicht: Sie werden vom Vater geopfert, vom Sohn geheiratet oder müssen 20 Jahre treu auf die Rückkehr des Ehemannes warten, der sich derweil auf einer griechischen Insel vergnügt. In ihrem frühen Prosatext Nie komme ich nach Theben deutet Waltraud Haas in verschiedenen Bildern an, was Frauen angetan werden kann – von Männern, anderen Frauen, Müttern und gesellschaftlichen Erwartungen.

Theben ist dabei nicht nur ein mythologischer Raum, sondern auch ein konkreter Ort: Die Burg Theben (slowakisch Hrad Devín) befindet sich am Zusammenfluss von Donau und March, rund fünf Kilometer Luftlinie von Hainburg entfernt, wo Waltraud Haas 1951 geboren wurde. Seit 1970 lebt sie als Autorin von Lyrik und Kurzprosa in Wien.

Kindheit, Familie und Erinnerungen werden in Haas’ Literatur nicht verklärt, sondern öffnen Abgründe vor dem sprechenden Ich: „vor dem Abgrund / meine Altvorderen // sie winken mich / begeistert / durchs Ziel“. Die nachwirkende Unterdrückung durch eine kontinuierlich auftauchende Mutterfigur, die Verwundbarkeit in der Hingabe an andere und die Reflexionen des eigenen Erlebens und Empfindens sind zentrale Themen der filigran verletzlichen und gleichzeitig aufmüpfigen Gedichte und Kurzprosa von Waltraud Haas.

Ihr Ich registriert die Menschen, die ihm schaden wollen, zunehmend wachsam und ist dabei alles andere als hilflos oder passiv: „ich höre / das Gras / ich schärfe / die Sichel“. In solchen Miniaturen, stets in knapper und klarer Sprache gehalten, fassen sich ganze Mikrokosmen einer Weltsicht und Ich-Betrachtung, wie etwa in folgendem Gedicht:

„Fragebogen // was wollten Sie als Kind werden? // unerbittliche / Kriegsberichterstatterin / an den Grenzen Thebens“.

Haas berichtet aus Grenz- und Zwischenwelten, in denen von außen zugefügte Verletzungen und reflexive Selbsterkundungen ineinanderfließen. Oft zeigen die Gedichte ein gefangenes und verunsichertes Ich, dessen Erinnerungen stets etwas Bedrohliches enthalten – etwa visualisiert in einem Kindersessel, der Sicherheit bieten, aber auch zum Gefängnis werden kann:

„Zeit meines Lebens // sitze ich festgezurrt / auf meinem Kinderstuhl / und warte / dass er kippt“.

Mit den Jahren wird das Ich in Haas’ Schreiben widerborstiger und aufmüpfiger. Schritt für Schritt stärkt es sich durch Selbstreflexion und behauptet seine Position, lakonisch und mit Ironie: „Hunger // ich beiße / auch die Hand / die mich füttert“. Dieses scheinbar einfache Bild zeigt eine kompromisslose Haltung eines Ich, das eigene Stärken und Schwächen seziert.

Die Gedichte von Waltraud Haas vollziehen oft unerwartete Wendungen, wenn das lyrische Ich aus Verunsicherung in Selbstbestimmung findet – aus Ohnmacht in Rebellion. So folgt auf Selbstkritik und Reflexion häufig jene unberechenbare Kraft, die ihre Lyrik besonders macht:

„Ich habe nichts // worauf ich zurückgreifen könnte / habe nicht gehortet / nicht gesammelt / besitze nur / was ich auf dem Kopf trage / weißes Haar / das mir zu Berge steht“.

Zentral ist die Weltsicht eines Ich, das sich gegen Konventionen stellt, seine Position vertritt und die Widersprüchlichkeit der umgebenden Realität erkennt – und daraus poetische Kraft schöpft. Die Ablehnung gesellschaftlicher Erwartungen und das Aufbegehren gegen Zwänge zählen zu den beeindruckenden Eigenschaften von Haas’ Lyrik:

„vor / des Zyklopen Auge / tanze ich / Rock ’n’ Roll“.

Für diese kreative Kraft, die überraschende Bilder und eine präzise Sprache verbindet, wird Waltraud Haas mit dem Preis herzlich gewürdigt.

Diese Textpassage stammt aus der Kulturpreis-Broschüre von 2020