Forschungsreisender
,,hoj!“ wenige beherrschen die Intonation tschechischer Begrüßungen so wie Willi Erasmus. Niemand moduliert in so feinen Nuancierungen tschechische Freudens- und Schreckensbekundungen. Das ist nicht Ergebnis zahlreicher Sprachkurse. Das kommt direkt vom Herzen und bedarfjahrelanger Praxis. Willi Erasmus ist Projektleiter grenzüberschreitender Aktivitäten. Er verbindet zwei Regionen an der Thaya, welche zwar Jahrzehnte durch den Eisernen Vorhang getrennt, doch davor ein gemeinsamer – mehrsprachiger – Raum waren. Das von der EU kofinanzierte ,,Impulszentrum“ soll Grenze abbauen, bevor die Grenze mit der Osterweiterung fällt: in wirtschaftlichen und kulturellen Belangen, im Tourismus und auf Gemeindeebene; aber vor allem in den Köpfen und Herzen der Mensch, hier wie dort. Erasmus ist Forschungsreisender der ersten Stunde. Als 199o der Grenzübergang Unterthürnau/Vratenin wiedereröffnet wurde, entdeckte er einen Kontinent für sich: blonde Weizenmeere, aufdenen Strohdampfer in den Horizont tuckern, verwunschene Schlösser, alternative Buchgeschäfte, Kaninchenfellzüchter, Keramikerinnen. Grenzübertritte wurden zum Programm. Tägliche Fahrten in das Nachbarland waren bald üblich. Er sammelte Eindrücke, Menschen, Geschichten. So viel Neugier macht verdächtig, und Willi Erasmus kann rückblickend bestimmt behaupten, dass an der kleinen Grenzstation kein Pass so oft auf Herz und Nieren geprüft wurde wie seiner. Er lernte schnell das Pendant zum Waldviertler Aussteiger- und Künstlerkreis kennen: die Brünner Szene, die im mährischen Grenzland angesiedelt ist. Willi Erasmus, Jahrgang 1963, wuchs in Wilhelmsburg an der Traisen auf. Der Betriebswirtschaftsstudent arbeitete in einem Wiener Maklerbüro und kam erst über Umwege ins Waldviertel. Statt der geplanten Wohnung in Wien kaufte er das ehemalige Gefängnis von Drosendorf. Nicht nur, dass das Haus aus dem 12. Jahrhundert eines der ältesten Gebäude der Stadt ist. Bevor im ersten Stockwerk die barocken Zellen eingebaut wurden, war es eine romanische Kirche und danach Schüttkasten. Mit Willi Erasmus wurde das Drosendorfer Gefängnis Museum, Baustelle und Kommunikationszentrum in einem. Der Wiener Beruf, dereine tägliche Zugsfahrt von fünf Stunden erforderte, war auf Dauer nicht mehr tragbar. So wurde Willi Erasmus zum Forschungsreisenden. Vielleicht impliziert das Leben im Gefängnis den Drang, Grenzen zu überschreiten. Die ersten multikulturellen Treffen fandenimAlternativgasthof Tralala in Vratenin/Fratting statt. Und was die ersten Jahre nach der Öffnung des Ostens so spannend machte: nicht nur die Österreicher konnten die Nachbarschaft entdecken, auch Tschechen und Slowaken selbst sahen ihr Land mit anderen Augen. Die Grenzregion blieb bis 1989 eine Terra incognita. Sperrgebiete allenthalben, Dörfer, die nur mit Sondergenehmigungen betreten werden durften, Strafversetzungen ins Hinterland einerseits, stramme Kommunisten an der Scheide zum Imperialismus andererseits. Dazwischen Roma, die in die verlassenen Häuser der Südmährer zwangsumgesiedelt wurden. Willi Erasmus bildete im privaten Kreis tschechisch-österreichische Ausflugsgesellschaften, die die Region erkundeten. Die ersten Ausstellungen, die er 1991 mit Künstlernbeider Länder organisierte, waren mehr spontane Happenings als langweilige Vernissagen. In der örtlichen Buchhandlung von Jemnice/Jamnitz fand eine zweisprachige Jan Skacel Lesung statt. Für den viel zu früh verstorbenen Brünner Bildhauer Martin Zlamal organisierte er eine Ausstellung in Schloss Halbturn, Burgenland. Alle Türen standen in der Emphase des Umbruchs offen. Es war eine bunte Mischung an Menschen, die sich in den ersten Jahren der Grenzöffnung zusammenfand. Künstler, ehemalige Südmährer, Rückkehrer und Gestrandete, einstige Schloss- und Gutsbesitzer. Für die Schlösser Police und Krasonice wurden Projekte für Kunst- und Kulturseminarbetrieb erstellt; allein die Zeit war noch nicht reifdafür und Restitutionsansprüche nicht geklärt. Willi Erasmus studierte die Grenzregion, nicht weil er einen Auftrag hatte oder dafür bezahlt worden wäre. Es war ihm noch nicht Beruf, sondern Berufung. Enthusiasmus ist ein guter Grundstock für die späteren Erfolge. In Drosendorfengagierte er sich im Filmclub, der als Rettungsaktion für ein sterbendes Gasthauskino begann und mittlerweile zu den arrivierten Kulturprojekten des Landes zählt. 1999 begann er mit dem Aufbau des ersten grenzüberschreitenden Impulszentrums in Drosendorf mit den Mitteln des „Interreg“-Fonds: Wirtschaftsstammtische, Kulturorganisation, gemeinsame Tourismusprojekte sind die Eckpunkte des Projekts. Ideen, Ansprüche, Vorstellungen klaffen oft weit auseinander.MiteinemkleinenBudgetkönnenauch trotz großem Engagement keine großen Sprünge gemacht werden. Das Drosendorfer Büro wurde zur Botschaft. Willi Erasmus schöpft aus seinem Fundus Kontakte für Ahnenforscher, Naturführer, Künstler, Bürgermeister, Im selben Jahr veranstaltete er das erste tschechisch-österreichische Filmfestival „CZinemA“. In Kinos entlang der Grenze zeigte Willi Erasmus Film aus demNachbarland. Die Kinos in Retz, Drosendorf und Gmünd, in Trebic, Znjomo/Znaim, Brno/Brünn und imkleinen Städtchen Jemince waren die Partner. Filme als populäre Kunstform transformieren wie keine anderes Medium Einblicke in ein anderes Land, die Sprachbarriere wurde mit Simultanübersetzungen überwunden. Im November 2001 wird das zweite Filmfestivals ,CZinemA“im Rahmen des Waldviertel Festivals zu sehen sein. Die zweisprachige Zeitschrift Fenster/Okno bringt in anspruchsvoller Form Reportagen und Portraits aus der Grenzregion. Im vergangenen Jahr wurde die erste Nummer produziert, dieses Jahr wird Fenster/Okno fortgeführt. Kontakte werden in alle Richtungen angestrebt: Ob es nun wechselseitige Besuche der Bevölkerung bei den Mittelalterfesten von Drosendorf und Jemnice sind oder das Projekt, einen internationalen Regionalmanagementlehrgang an der Fakultät von Jindrichuv Hradec/Neuhaus zu installieren; ob es ein gemeinsamerWandertag tschechischer und österreichischer Schüler, oder die Konzeption eines Literaturfestivals in Drosendorf ist. Es ist und bleibt eine Arbeit der kleinen Schritte, und nicht alle führen vorwärts. Es sind die Mühen der Ebene. Der Kontinent namens Tschechien ist keine Terra incognita mehr, und was als Abenteuer begann, endet manchmal im Dschungel der Bürokratie. Der Forschungsreisende ist nach wie vor unterwegs.