Zdenka Becker

Literatur
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Menschenbilder

Wenn Zdenka Becker 2014 den Würdigungspreis für Literatur des Landes Niederösterreich erhält, so wird damit die Leistung einer Schriftstellerin ins Scheinwerferlicht gerückt, die mehrsprachig und Grenzen übergreifend von ihrem Wohnort St. Pölten aus mit vielen Reisen in sehr verschiedenen Kulturräumen Beachtung und Anerkennung findet, ob in New York mit Bühnenstücken, in europäischen Ländern mit Romanen, Erzählungen, Gedichten und Bühnenwerken oder in Indien, einfach formuliert, wie mit zahlreichen Beiträgen in internationalen Anthologien – weltweit.
Zdenka Becker wurde 1951 in Eger (damals CˇSR) geboren, ist in Bratislava (Slowakei) aufgewachsen, nach abgeschlossenem Wirtschaftsstudium mit ihrem Mann nach St. Pölten übersiedelt, hat am Dolmetschinstitut Wien weiterstudiert und sich binnen zehn Jahren ihres Lebens in Österreich unsere Sprache so intensiv zu eigen gemacht, dass sie seit 1986 in deutscher Sprache schreibt und publiziert. Nicht nur ihre Werke werden in verschiedene Sprachen übersetzt, sie selbst übersetzt z. B. slowakische und russische Literatur ins Deutsche und Werke österreichischer Kollegen wie Karl-Markus Gauß oder Peter Turrini ins Slowakische.
Im Kernbereich ihrer künstlerischen Leistung sehe ich die eigenschöpferischeliterarische Arbeit, die Bühnenwerke, Romane, Erzählungen, Gedichte, für die sie seit 1993 Stipendien und Preise in Österreich, Deutschland, der Slowakei und den USA bekommen hat, und will aus der großen Vielfalt ihrer Werke eine subjektive Auswahl einer genaueren Betrachtung unterziehen. Zdenka Becker erzählt in einer präzisen, gediegenen Sprache Außen- und Innenwelten von Menschen, deren Schicksal sie wahrscheinlich irgendeinmal tief berührt hat: eine Frau, die als Pflegerin im Ausland arbeitet, während ihr Kind bei den Großeltern aufwächst. Eine unerwünschte Schwangerschaft muss beendet werden, weil sonst ihre Existenz aus den Fugen gerät.
Vom abrupten Ende des Prager Frühlings völlig überrascht, wirft eine junge Frau leere Flaschen, die sie eigentlich nur entsorgen wollte, gegen die anrollenden Panzer und wird deswegen erschossen.
Unschwer nachvollziehbar erscheint mir der Konflikt einer Angestellten, deren Chef von ihr verlangt, dass sie den inneren Kern einer Bürgerinitiative ausspioniert, die der Firma unangenehm zusetzt. Aber die Bombe tickt bereits und wird nicht Unbekannte verletzen, sondern eigene Angehörige und Freunde.
Sehnsucht und Unruhe einer Frau, deren Mann, ein begeisterter Extrembergsteiger, auf einer Tour lange verschollen ist, bis sie erfährt, dass er nicht abgestürzt, sondern an einer Lungenembolie gestorben ist.
Die Autorin erzählt ohne sprachartistische Verrenkungen, empathisch, einfühlsam und humorvoll, von unerfüllter genauso wie von gelebter Liebe, nimmt Leidenschaften, Geheimnisse, Skrupel, ungute Seiten ihrer Protagonistinnen und Protagonisten und die Unwägbarkeiten äußerer Veränderungen in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit und bezieht dabei die politischen Verhältnisse, die speziellen Eigenarten der sozialistischen Gesellschaft vor und nach der Wende mit ein.
Für die geschilderten Menschen gibt es Lebensfragen, Lebensthemen, die jahrzehntelang ihre Lebensgestaltung und Entscheidungen bestimmen, wie in «Die Töchter der Róza Bukovská», die lebenslang versuchen, irgendwo anzukommen, Wurzeln zu schlagen, Heimat zu finden.
In «Taubenflug» wirkt eine Jugendliebe zwischen zwei Halbwüchsigen in den 1950er und 1960er Jahren in der Tschechoslowakei noch im späteren Leben des Mädchens weiter, weil der Freund noch als Kind in politischen Wirren verschwunden ist. Erst nach dem Tod der dominanten Mutter gelingt ihr die notwendige Selbstfindung.
In «Der größte Fall meines Vaters» kombiniert die Autorin einen Kriminalfall,eine liebevolle Vater-Tochter-Beziehung und die politischen Umbrüche nicht ohne ironische Brechung: Der pflegebedürftige alte Mann wird im Rollstuhl, mit seiner alten Uniform angetan und mit seinen Orden behängt, von der Tochter spazieren gefahren.
Für Niederösterreich, das länger als andere Bundesländer unter dem Eisernen Vorhang gelitten hat, ist Zdenka Becker eine Autorin, die nicht nur wie Einheimische den Blick über die Grenzen ins ehemalige «Ausland» öffnet, sondern aus diesem «Ausland» gekommen ist und hier eigene Erfahrungen mit dem zerfallenen Ostblock-System in ihre künstlerische Arbeit einbringt und aus der Perspektive ihres heutigen Lebens literarisch gestaltet.

Diese Textpassage stammt aus der Kulturpreis-Broschüre von 2014