Unterhaltsam und therapeutisch
Wer Buchhandlung betritt, um ein Kinder- oder Jugendbuch zu erstehen, dem wird gewiß eines von Christine Nöstlinger empfohlen werden. Sie ist die weitaus erfolgreichste Jugendbuchautorin unserer Tage und hat sich nicht nur in ihrer österreichischen Heimat, sondern auch im Ausland durchgesetzt, was auch zahlreiche Preise bestätigen: unter anderem der Österreichische Staatspreis für Jugendliteratur, der Jugendbuchpreis der Stadt Wien und die Hans Christian Andersen-Medaille. Geboren wurde sie am 13. Oktober 1936 in Wien, wo sie auch die Akademie für Angewandte Kunstbesuchte. Heute lebt sie als freie Schriftstellerin in Wien und im niederösterreichischen Waldviertel. Das breite Spektrum ihrer Schriften -sie publizierte Dutzende von Büchern und zahlreiche Beiträge für den Rundfunk – entspricht der Bandbreite von Verhaltensweisen Jugendlicher. Sie hat Schulgeschichten wie die ,,Geschichten von Franz“ und ,,Ein Kater ist kein Sofakissen“ erfunden, betont wienerische Kinderromane wie ,,Wetti und Babs“ geschrieben, in denen das „normale“ Alltagsleben mit Familienkrach an allen Fronten geschildert wird,in denen aber auch die pubertäre Spurensuche nach dem Unbekannten eine Rolle spielt. Der schnippische Erzählton, der in den Dialogen einen oft derben Jargon miteinbezieht, die Familienphobie, die lockere Ausdeutung von Familienszenen und erwachenden Sexualgefühlen mag manche Erwachsene bisweilen schockieren, aber gerade diese bilden die Basis für den Erfolg und Beliebtheit Christine Nöstlingers. Besonders populär wurde sie-nicht nurbei Kindern! -mit der Rundfunkserie ,,Dschi-Dschei-Dschunior“. christine Nöstlinger spricht die Sprache der Heranwachsenden. Deshalb wird die Antwort, die sie aufderen Frage gibt, von diesen auch verstanden. Indem Christine Nöstlinger auf die emotionalen und physischen Probleme von Kindern und Jugendlichen eingeht, erfüllt sie eine therapeutische Aufgabe. Sie kämpft, wie es ein deutscher Rezensent unterstrich, ,,schreibend für die Jugend und deren Übermut, deren Träume und ihre Fehler, die sie für notwendig hält.“Die Psychologin Jeanne Meijs hat in einem wertvollen Ratgeber für Eltern und Erzieher aufgefächert, wie man Problemkindern durch Spielen, Malen und Erzählen helfen kann und darauf hingewiesen, daß das Ich nur vom Ich eines anderen wahrgenommen werden kann, daß die innere Unruhe oft in Aggression übersetzt wird und Problemkinder versuchen, durch Aggression eine Art Explosion auszulösen. Es gelte, so folgert sie, Kinder daher nicht zu dämpfen, sondern sie ernst zu nehmen, sodaß es erstgar nicht zu einem gefährlichen Gefühlstau und der Sprengung der Schranken durch diesen kommt. Kinder reagieren auf die negativ besetzte und aufgeladene Seelenstimmung um sie herum mit verschiedenen Störungen, in denen sich mitempfindende Emotionen äußern. Daher müssen Eltern die eigenen Aggressionstriebe abbauen, um denen ihrer Sprößlinge begegnen zu können. Gerade hier setzt Christine Nöstlinger ein. Ein exemplarisches Beispiel dafür ist ihr Roman ,,Das Austauschkind“, der Erlebnisbericht eines dreizehnjährigen Buben, der in der Atmosphäre eines angeblich harmonischen Familienlebens umsorgt und wohlbehütet aufwächst. Seine Schwester Bille fegt die Illusion mit einem einzigen Satz vom Tisch: ,,Wir haben gar keine Harmonie. Es ist bloß stinklangweilig!“ „Meine Mutter“, so monologisiert der Bub, ,,weiß, was für mich gut ist. Und wenn sie es nicht ganz genau weiß, fragt sie meinen Vater. Auf die Idee, daß sie auch mich danach fragen könnte, kommt sie nicht.“In die „heile“ Welt platzt nach turbulenten Verwicklungen, die vom wachsenden Widerstand der aufmüpfigen Kinder gegen die Verplanung ihres Lebens durch die Eltern und deren Fehlkalkulationen ausgelöst wurden, ein Austauschkind aus England: der Knabe Jasper. Er ist ein perfektes kleines Ungeheuer, das durch seine Verstocktheit, die sich bald mit Gleichgültigkeit drapiert, bald durch Wutausbrüche alle zur Verzweiflung bringt. Knapp vor dem Schluß findet sich die Erklärung für seinen heftigen Aggressionstrieb. Als die Rede auf seine Mutter kommt, reagiert er böse und radebrecht: ,,Mrs. Pickpeer hat mir geboren. Aber ich liebe sie nicht. Sie mir auch nicht. She only loves Tom.“ Als der seelisch verarmte freche Junge sich mit Bille ,,verloben“ will, das Mädchen aber aufDistanz geht, weist sie ihr Bruder zurecht: ,,Unlängst hast du der Mama vorgeworfen, sie kann nurMenschen lieben, die sich wohlverhalten. Aber du bist noch ärger! du kannst nur die lieben, die schön aussehen. Sonst könntest du auch Jasper lieben, einfach weil er der Jasper ist, der geliebt werden will!“Christine Nöstlingers Bücher sind progressiv antielitär. Manche, wie ,,Maikäfer, flieg!“ haben politischen Charakter. Der letztgenannte Roman ruft die Erinnerung an Bomben, Schutt und Trümmerberge wach. Im Mittelpunkt steht die Freundschaft eines neunjährigen Mädchens zu einem russischen Besatzungssoldaten, der zum Symbol reiner Menschlichkeit wird. Vehement setzt sich die Autorin für Minderheiten ein. Durch alle ihre Werke, von der ,,Roten Friederike“ bis zu ,,Gretchen, mein Mädchen“, dessen Hauptfigur eine gescheiterte Liebebeziehung mit Freundlichkeit wieder belebt, zieht sich als roter Faden die Überzeugung, daß man alle Eigenliebe überwinden muß, um zum tieferen Leben zu gelangen. Diese Einsicht hebt die Bücher Nöstlingers aus der Fülle der Jugendliteratur heraus, umso mehr, als sie ohne ausgestreckten Zeigefinger vorgetragen wird. Die Autorin läßt die Sätze ihrer betont naturalistischen Bücher wie eine Reise erleben, Lesen wird, im Sinne Schopenhauers, zum Schaffen. Christine Nöstlingers Schriften sind Signale vom Kopf zum Herzen und vice versa im Bereich einer ethischen Pflanzschule, die auch von den Erwachsenen zur Kenntnis genommen werden sollten, weil sie zum Verständnis kindlicher Verhaltensweisen beitragen.