Visuelles als Inspiration
Die Jury war sich schnell einig: unter den vielen Anwärtern für einen der Anerkennungspreise stand er als einer der Preisträger nach kurzer Beratung fest: Germän Toro-Perez. Was ihn auszeichnet, ist nicht so schnell zu sagen: Musik läßt sich nicht sagen, und Eiligkeit verdirbt sie. Keine sensationellen, spektakulären Ereignisse in Toros Komponistenkarriere. Eine feine, kleine Werkliste, die der Lehrer am Institut für Elektroakustik, experimentelle und angewandte Musik der Wiener Musikuniversität, vor allem während der Sommermonate schafft: Solostücke für Klavier, Flöte, Klarinette, ein Saxophonquartett, ,,drei Skizzen und ein Stück für Flöte und Klavier“, ein Streichquartett, eine Chor-a-capella- Komposition, Stücke für Ensemble mit und ohne Elektronik, Stücke für Tonband allein, ein umfangreiches Stück für Ensemble und Stimmen nach Texte von Fernando Pessoa und zwei Orchesterstücke. Texte und Gedanken des argentinischen Dichters Jorge Luis Borges, kommen immer wieder vor. Manche seiner Werke tragen spanische Titel-der 1964in Bogota Geborene nimmt durch seine Muttersprache immer wieder im Titel oder im Text Bezug zur kolumbianischen Jugend,wo er die ersten zwanzig Jahre seines Lebens verbrachte, und Klavier, Gitarre und auch Komposition zu studieren begann.German Toros Musikist genauso unspektakulär ernsthaft wie seine Karriere, sie ist verfolgbar, faßbar, man kann ihr nachhören, ohne überwältigt zu werden, man kann mit ihr mitgehen, die Klangzustände miterleben, ohne den Faden und die Lust am Zuhören zu verlieren. Instrumente und Elektroakustikkommunizieren, wie in„Ficciones“, wo die Frage nach Wirklichkeit und Fiktion sich aus ihrer Gegenüberstellung stellt. Die anekdotischen Klänge aus dem Tonband, so körperlos unfaßbar sie uns Konzertbesuchern erscheinen, sind näher an unserer realen Welt als der Celloton. Die ersten Illusionen, die großen Hoffnungen, die jede neue Technologie auslöst – was hat man nicht vom Radio für Weltverbesserungen erwartet? sind ausgeträumt. In der großen Erwartung, die mit der Entdeckung und Wiederentdeckung der elektronischen Klänge verbunden waren, hat man den scheinbar endlos dehnbaren Bogen überspannt, die Instrumente, deren Lautstärke vom Menschen unabhängig ist, deren Atem niemals ausgeht, die niemals eine Pause brauchen, die keine mechanischen Grenzen kennen, verwendet, bis sie an die akustischen Grenzen der Hörer stießen. Wenn die Musik ihre mechanischen Grenzen verloren hat, wenn ein Ton keine Atempausen und keinen Bogenwechsel mehr braucht, wenn die Energiequelle der Musik unerschöpflich ist, so ist es das Fassungsvermögen der Hörer noch lange nicht. Es sind die einfachen Fragen, die Toro mit seinen Studenten als Lehrer für elektroakustische Musik, Signal Processing und Komposition immer neu durchdenkt: die Grenzen des Hörens, die Grenzen der Wahrnehmung, die Bedingungen der Fasslichkeit, die Beziehungen, die das Klangmaterial eingehen kann, die Technik. Die Kunst der elektroakustischen Komposition istjung, und das Handwerk dazu hat noch wenige Meister hervorgebracht. Toro kennt als seine großen Vorbilder Luc Ferrari und Luigi Nono. Er liest Webern, erinnert sich mit Dank an Karl Heinz Füssls Analyse-Vorlesungen in Wien. Syntax und Form müssen auch mit neuem Material überdacht werden: „Form, sagt der Komponist, versteht er als Prozeß, als Weg durch Zustände“. Der Weg, den das Tonmaterial geht, ergibt sich aus einem meist außermusikalischen Gedanken. Toro sucht die Form im Klang selbst, in der Anatomie der Instrumente, in der Analyse von anderen Stücken aber auch in der Beobachtung der vielfältigen Ordnungssysteme des menschlichen Lebens. Form ergibt sich für jedes Stück neu, für jeden zu vertonenden Gedanken adäquat. In Rastro für Klarinette solo sind Folge und zeitliche Proportionen der Formabschnitte aus den Stufen der Tantrischen Evolutionslehre, den Alterstufen nach der Ptolemäischen Reihenfolge und der Struktur der Paradiese aus Dantes Göttliche Komödie entnommen. Der Formverlauf von Arco, für zwei Klaviere im Viertelton Abstand, spiegelt die Grundstruktur des Klaviertons wieder: ,,sehr gerauschhafter Einschwingvorgang, quasistationärer, harmonischer Zustand, langer Ausschwingvorgang. ,,Ähnlich aber aus dem Klang einer Glocke verhält sich es bei Estudio de Ruidos y Campanas für Tonband, (Preisträger in Bourges 1997 und Bogota 1998). Bei Domus Dädali (zu Deutsch Labyrinth), für Sopran und Ensemble nach einem Gedicht Borges‘ über den Mythos von Theseus aus der Sicht des Minotaurus, folgt die Form eines klassischen Labyrinths: nicht Irrgarten, sondern längstmöglicher Umweg zur Mitte und wieder hinaus. Drama em Gente, nach Texten von Pessoa, versucht, „die komplexe, prismatische Struktur von Persönlichkeit und Werk des Dichters zu projizieren, wo Zersplitterung, Widerspruch und Konflikt innerhalb eines Wesens nicht negiert und die Teile nicht in eine scheinbar harmonische Einheit gezwungen werden, sondern, zum Preis einer am Rand der Gesellschaft verbrachten Existenz, unmittelbar ausgelebt und ausgedrückt werden. Memorial (Notizbuch) für Ensemble geht von Webems Variationen Op. 30 als ,,Inbegriffdes in höchstem Maß in sich Geschlossenen“ aus und handelt, nach einem Gedanken aus dem Film Zoo von Peter Greenaway, von Symmetrie, genaugenommen von Tod als Folge der Zerstörung von Symmetrie. In die letzte Gruppe von Arbeiten, Inventario I (Tonband 1999), Inventario II (Klavier und Tonbandl998/99, Auftragswerke des IGMEB, Bourges) und Inventario III (Ensemble und Tonband 1999, Auftragswerk der Bludenzer Tage der zeitgemäßen Musik, Bludenz)“ erscheint die Liste, eine wie auch immer geordnete Reihung von vielleicht extrem heterogenen Elementen als wichtiger gemeinsamer formaler Gedanke, ein ausschliesslich menschliches, räumliches Ordnungsprinzip, das in verschiedensten Formen zu finden ist: die zufällig hintereinander gereihten Glasfenster einer Einkaufsstraße, die Eintragungen eines Einkaufzettels, die Blätter eines Fotoalbums, die geordnete Reihe des Alphabets oder der Zahlen, die Bücher einer Bibliothek, die Menschen einer Warteschlange oder in mehreren Gedichten von Borges, bestehend aus der Aufzählung von Gegenständen, die in irgendeiner Beziehung zur Welt, zum Leben, zur Erinnerung stehen. Diskontinuität, Bruch, Ordnung. „Für den Unterricht muß die Form auch sichtbar gemacht werden bei der Arbeit mit Musik, die außer einem Tonträger in keiner anderen Weise visuell nachvollziehbar ist; für Studenten, die nicht notwendigerweise ein traditionelles Kompositionsstudium bewältigt haben. Anders als Toro, der bei Erich Urbanner ein Kompositionsstudium absolvierteist es das Privileg des Lehrgangs für elektroakustische Musik, ohne traditionelle Vorkenntnisse studieren zu dürfen. Die Studenten sind eine heterogene, einander mit unterschiedlichstem Background und verschiedensten Vorkenntnissen inspirierende Gruppe. Der der Last der Tradition weit weniger verpflichteten produktiven Seite dieser Musik steht auch ein neues, unbefangenes Publikum gegenüber. Wer die Festivals, die in Allentsteig zum Beispiel gefeiert werden, miterlebt hat, erinnert sich an das flexible, aufgeschlossene Publikum, das gern zwischen den Klangereignissen herumwandert, lustvoll interessiert, nicht nur die Musik, sondern auch sich selbst, die Unterhaltung mit Gleichgesinnten und das Ambiente genießt. Es scheinen Hörer zu sein, die mehr als den Ewigkeits- und Bildungswert des Konzertprogramms den Augenblick der Aufführung genießen, der oft auch jener der Produktion ist. German Toro kennt das Publikum auch als Planer und Organisator von Projekten zeitgenössischer Musik in der Volkshochschule Stöbergasse, in der besonders auf verbale Einführungen und die Musikverwandtschaften etwa zu Kino und Literatur – Wert gelegt wird.Er weiß die Inspirationsquellen der visuellen Künste zu schätzen: seine Verehrung für den Maler Aark Rothko und seinen kompromißlosen „Weg zur Fülle durch Reduktion“, mündete in einer ,,Homenaje a Mark Rothko“ für Streichorchester mit dem poetischen Titel eines seiner Bilder, Earth, Light and Blue. Eine seiner letzten Arbeiten ist die klangliche Umsetzung graphischerAnimationen, die Andreas Niederer unter der Leitung des Graphikers Walter Bohatsch aus der Idee der 12Ton-Reihe entwickelte. Die erste Vorführung dieses Computer-gesteuerten Filmes fand imAugust 1999 im perfekten Umfeld des Wittgenstein-Hauses statt.Toro ist Mitbegründer des NewTonEnsembles, das sich besonders dem Repertoire zeitgenössischer instrumentaler Kammermusik mit Elektronik widmet. Auftritte im Schönberg Center, im MAK und in der Wiener Stadtinitiative dokumentieren die ehrenamtliche Knochenarbeit der Gruppe. Die Erfolge des 35-Jährigen, der mit seiner Frau und zwei Kindern in Neulengbach lebt, können Kenner der Neuen Musik-Szene noch viel besser abschätzen: im Herbst ist er vom Pariser IRCAM – dem legendären Studienort elektroakustischer Musik – zu einem Workshop in Computer Music eingeladen, im Mai 2000 wird die Jeunesse Musical und das Ensemble ,,Die Reihe“ im Großen Sendesaal des ORF einen Abend Toros Werken widmen. Mit „Arco“ – dem Stück für zwei Klaviere im Abstand von einem Viertelton – gewann er den ersten Preis des Kompositionswettbewerbes im Rahmen der 4. Tage der zeitgenössischen Klaviermusik, es wurde bei den „Hörgängen 1999″ im Wiener Konzerthaus für die Lange Nacht der Neuen Klänge ausgewählt. Das renommierte Institut de Musique Electroacoustique Bourges gab ihm einen Kompositionsauftrag für Klavierund Tonband. Der Höhepunkt ist noch nicht erreicht. Das Ziel ist ,,einmal ein Stück komponieren, bei dem alles stimmt.“ Ein unspektakuläres Ziel, das sich an den ganz Großen der Musik- und Kunstgeschichte mißt.