Ilse Helbich

Literatur
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Kostbare Erinnerungen

„Es lebt einer nicht von der Antwort auf seine Frage, er kann vielmehr in der Frage leben.“
aus „Schmelzungen“ (2015)

Ilse Helbich (geboren 1923) begann ihre öffentliche Laufbahn als Schriftstellerin direkt mit dem Alterswerk. Ihr erstes erzählerisches Buch „Schwalbenschrift. Ein Leben von Wien aus“ erschien 2003, in ihrem 80. Lebensjahr. In den darauffolgenden 14 Jahren folgten acht weitere Bücher, und von einer Publikation zur nächsten wuchs ihre Anerkennung im deutschsprachigen Feuilleton, in dem die Autorin besonders als einzigartige Chronistin des Alterns hochgeschätzt wird. Der späte literarische Auftritt Ilse Helbichs ist aber wohl eher als Resultat einer lebenslangen Haltung und Entwicklung zu sehen. Davon kann man sich in ihren Texten überzeugen, von denen manche durchaus autobiografische Züge tragen.

Schreiben und Veröffentlichen bestimmten (nach einem Studium der Germanistik mit abschließender Promotion im Fach Literaturwissenschaft) aber auch ihre berufliche Tätigkeit als Journalistin und Publizistin, der sie sich trotz der Beanspruchung als Mutter von fünf Kindern widmete. Dass die Autorin bereits in ihrer Jugend literarisch aktiv war, zeigen entsprechende Materialien in ihrem Vorlass, der seit Dezember 2017 im Literaturarchiv Niederösterreich aufgearbeitet wird.

Älterwerden ist wesentlich verbunden mit der Erfahrung des Verschwindens von Menschen, Dingen, gesellschaftlich-kulturellen Ordnungen, die einen als jungen Menschen prägen – und dem Erinnern daran. Ohne Überlieferung wären individuelle Erinnerungen vergänglich wie die Gehirne, denen sie entstammen. Literatur hat als künstlerisches Ausdrucksmittel nicht nur formale Ähnlichkeiten mit menschlichen Erinnerungsvorgängen, es war auch immer schon eine ihrer wichtigsten Funktionen, diesen als Speichermedium zu dienen.

Der Prosaband „Vineta“ (2013) webt in Anspielung auf die deutsche Sage von einer einst prosperierenden, versunkenen Stadt ein wohlstrukturiertes Netz aus Erinnerungstexten, die eine ebenso versunkene Kindheitswelt heraufbeschwören. Der Band knüpft inhaltlich an die „Schwalbenschrift“ an, in der einige der Geschichten oder Erinnerungsfragmente bereits festgehalten sind, vergegenwärtigt diese aber über eine veränderte Anordnung und Fokussierung wieder neu.

In Helbichs literarischem Ansatz werden der Versuch und die Suche nach Erkenntnis über die Behauptung vermeintlicher Wahrheiten gestellt, wird das Werk als eine Art Zwischenstadium innerhalb eines übergeordneten Prozesses und weniger als unverhandelbarer Endzustand verstanden.

Im niederösterreichischen Kamptal bewohnt Ilse Helbich ein altes Haus, dem sie auch ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Der Roman „Das Haus“ (2009) berichtet von der Revitalisierung des verfallenen, durch zahlreiche Umbauten verunstalteten Gebäudes und dem Bemühen, dessen ursprüngliches Wesen wieder aus der Deformation herauszuschälen, aber auch von zunehmender Verbundenheit mit der umgebenden Natur, von Annäherungen an Nachbarn und der gemeinsam erlebten Jahrhundertflut im Jahr 2002, die für das Tal katastrophale Auswirkungen hatte.

In diesem Haus hat Ilse Helbich anlässlich eines Interviews nach dem Erscheinen ihres einzigen Gedichtbandes „Im Gehen“ (2017) ihre schriftstellerische Tätigkeit mit verblüffender Offenheit für beendet erklärt. Auch wenn zu hoffen ist, dass sie weiterschreibt, liegt bereits ein eigenwilliges Gesamtwerk vor, das in seiner Scharfsinnigkeit und Distanziertheit zum persönlichen Erleben von der geistigen Würde des Alters in ihrer positivsten Ausprägung getragen ist.

Christine Rigler

Diese Textpassage stammt aus der Kulturpreis-Broschüre von 2018