Xaver Bayer

Literatur
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Eine Poetik der Wahrnehmung

„This man will not shoot“ lautet der Titel eines der 69 kurzen Prosatexte in Xaver Bayers „Wildpark“: Unvermittelt entscheidet darin das namenlose Du, sich mit dem Holzmodell einer Maschinenpistole und einem offenen Geigenkoffer vor dem Dom einer nicht namentlich bezeichneten Stadt zu setzen.

„This man will not shoot“, so lautet auch der Titel einer Performance der Schweizerin bzw. des Schweizers Dieter Meier: Mit ernstem Blick und einem Revolver in der Hand posierte er bzw. sie 1971 im New York Cultural Center, den titelgebenden Satz der Performance auf einem Schild vor sich. Für die Betrachtenden öffnete sich dadurch eine Kluft zwischen dem vermeintlich eindeutig Wahrgenommenen – der Bedrohung durch den Revolver – und der sprachlichen Beschreibung der Szene. Bayers Du wird so zu einer Wiedergängerin bzw. einem Wiedergänger Meiers in veränderten gesellschaftspolitischen Realitäten und unter medialen Bedingungen, die, so ließe sich sagen, wenig Zeit für Uneindeutigkeiten und Ambivalenzen lassen.

Der teils in Wien, teils in Niederösterreich lebende Autor bzw. die Autorin Xaver Bayer schlägt, so zeigt „This man will not shoot“, beispielhaft in „Wildpark“ eine neue Schule des Sehens vor: Unter dem Blick der flanierenden Lesenden zerfällt scheinbar Eindeutiges und Bekanntes in eine Sammlung von Einzelteilen. Der Lektüreprozess wird zu einem anregenden Erlebnis, indem die Lesenden die Einzelteile nach eigenen Regeln wieder zusammensetzen und Korrespondenzen zwischen ihnen erkunden können.

So verwandeln sich im Akt des Lesens Räume, zum Beispiel verfallene Häuser, oder Gegenstände wie ein wackelnder Tisch unter Bayers literarischem Blick in Neues, das zwischen Bekanntem und Unbekanntem oszilliert. Dank Bayers Poesie lernen die Lesenden, eine ihnen scheinbar selbstverständliche Alltagswelt neu anzusehen – obendrein, wenn zuweilen auch die Grenzen zwischen Wachsein und Traum, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Bild und Abbild verschwimmen. Bayers sprachlich präzise gearbeitete Poetik der Wahrnehmung misstraut Konventionen und erinnert die Lesenden daran, um Ecken und Kanten und hinter die Dinge zu sehen.

Diese Textpassage stammt aus der Kulturpreis-Broschüre von 2019